Sie selber entsprach dieser "Neuen Frau" aus den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, für die der Kurzhaarschnitt und die demonstrativen Gesten einer nach Emanzipation strebenden jungen Generation zum Markenzeichen wurden. Jene Frauen waren neugierig, weltgewandt, frei von materiellen Sorgen und sie nutzten die Freiheiten, die ihnen die damalige, sich modernisierende Gesellschaft zwischen den beiden Weltkriegen bot.
Das Berufsbild der Fotografin passte in diese neue Zeit. Es versprach künstlerische Ausdrucksmöglichkeit, berufliche Anerkennung und sogar wirtschaftliche Unabhängigkeit. So entschloss sich Marianne Breslauer 1927, beim Berliner Lette-Verein das fotografische Handwerk zu lernen. Ihre Kreativität und Begabung zeigte sich schnell und bereits mit achtzehn Jahren schuf sie eine Aufnahme von Paul Citroen, die heute zu den herausragenden Werken der Porträtfotografie des "Neuen Sehens" gehört.
Unmittelbar nach Abschluss ihrer Ausbildung reiste sie nach Paris, dem "Ziel ihrer Träume". Hier, in der aufregendsten Kultur-Metropole der Zeit, wird sie von der Schönheit der Stadt und von dem bunten schillernden Leben auf der Straße eingefangen. Sie entdeckt sehr schnell, dass die erregende Unmittelbarkeit dieses Lebens ihrem Temperament eher entspricht als die Atelierfotografie. Wie andere große Fotografen der Zeit registriert auch sie in den unscheinbaren und unbeachteten Momenten eine Poesie, mit der man der Essenz des Lebens näher kommt als in den spektakulären Ereignissen, wie sie der Fotojournalismus liebt. Deshalb fotografiert sie in Parks und an der Seine, deshalb beobachtet sie Schausteller und Clochards. Ohne sozialkritischen Hintergrund fixieren diese Bilder das Alltagsleben einfacher Menschen. Wieder zurück in Berlin, konnte sie einige Aufnahmen an Zeitschriften verkaufen.
Doch zu diesem Zeitpunkt ist Marianne Breslauer weit davon entfernt, mit ihren Bildern Geld zu verdienen. Sie denkt daran, Reportagefotografin zu werden, erlernt bei Ullstein das dafür notwendige Handwerk, kommt dann aber zu dem Schluss, dass ihr Tagesereignisse zu wenig bedeuten und dass sie das Quäntchen Skrupellosigkeit nicht besitzt, das für dieses Geschäft unabdingbar ist.
In den folgenden Jahren unternimmt sie ausgedehnte Reisen nach Italien, Palästina und Spanien. Hier gelingen ihr großartig beredte Bilder über die stumme Ereignislosigkeit des Lebens auf den Straßen und Plätzen. In ihrer Gesamtheit geben diese Reisefotografien nicht nur die Atmosphäre fremder Orte wieder, sondern sie transportieren auch etwas von der Andersartigkeit fremder Kulturen und ihrer Lebensweise.
Dazwischen reist sie immer wieder nach Berlin und Paris, wo sie Künstler und berühmte Persönlichkeiten der Kunstwelt fotografiert.
1936 muss Marianne Breslauer Deutschland als Emigrantin verlassen. Ihr Weg führt sie zunächst nach Amsterdam, später in die Schweiz. Die Welt, die sie liebte, hatte sie fotografiert, die neuen Verhältnisse hatten ihr die Lust daran genommen. Dazu kamen die veränderten Lebensbedingungen im Exil, die Familie und die Kinder. In ihrem zweiten Berufsleben widmete sie sich ebenso passioniert dem Kunsthandel, wie sie sich zuvor der Fotografie gewidmet hatte.
Marianne Breslauer hinterließ ein kleines, aber bedeutendes Werk. Ihre Foto-grafien zeigen, dass sie die Bildsprache des „Neuen Sehens“ und die Ästhetik der modernen Kunst seit dem Impressionismus ganz selbstverständlich in sich aufgenommen hatte. Es ist eine Veränderung des Sehens, das einen neuen Blick auf die Welt zeigt und gleichzeitig auf eine Veränderung der Wahrnehmung zielt.
Die Ausstellung in der Berlinischen Galerie mit etwa 130 Fotografien ist eine Übernahme von der Fotostiftung Schweiz. Sie ist die erste umfassende Retrospektive mit vielen bisher unbekannten Originalfotografien sowie Neuabzügen von Originalnegativen aus dem Nachlass der Fotografin.
Dieser monografischen Ausstellung Marianne Breslauers hat das Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur aus seiner Sammlung einen zweiten Teil hinzugefügt. Hier zeigt die Berlinische Galerie etwa 60 Bilder von zehn Fotografinnen, darunter Yva, Steffi Brandl, Lotte Jacobi und Marta Astfalck-Vietz. Im Vergleich mit diesen teils berühmten teils bisher nur Experten bekannten Autorinnen wird die besondere Qualität der Fotografie von Marianne Breslauer, aber auch die in der Zeit wurzelnden Parallelen im Werk anderer Fotografinnen verständlich. Darüber hinaus aber wird durch diese Art der Präsentation auch noch einmal die große Bedeutung der Fotografinnen für die Fotografie der Moderne anschaulich gemacht.