Auf das Ende des Ersten Weltkriegs und die Kämpfe der Novemberrevolution 1918/19 folgen Inflation und Arbeitslosigkeit. Berlin ist in Aufruhr, und die Künstler sind es auch: George Grosz seziert die Welt der Ganoven und Huren, Erich Godal dämonisiert in seinem Zyklus „Revolution“ die Fabriken, Otto Möller und Heinrich Vogeler zeichnen Volksredner und Menschenmenge, auch der junge Werner Heldt träumt vom Aufstand. So unterschiedlich die künstlerischen Mittel auch sind, kaum einer kann sich der Stellungnahme entziehen. Künstler stürzen sich in das Straßenleben des mondänen, proletarischen oder „lasterhaften“ Berlins und finden dort ihre Modelle. Auf dem Großstadtboulevard, an der Bar, hinter den Kulissen einer Revue oder im schummrigen Tanzsaal einer Arbeiterkneipe, an all diesen spezifischen Orten der Großstadt Berlin finden die Zeichner die Gesichter der Straße und damit das Typenreservoir jener Zeit: Revolutionär, Proletarier, Hure, Girl, Garçonne, Strichjunge, Zuhälter, Lustmörder, Kriegsgewinnler, Parvenue, Angestellte.
Künstlerinnen wie Jeanne Mammen, Gertrude Sandmann oder Lilo Friedlaender geben der Neuen Frau ein Gesicht: Sie nutzt die neu erkämpften Frauenrechte, geht auf die Universität, wird Ärztin oder Künstlerin. Sie träumt wie Irmgard Keuns berühmtes „Kunstseidenes Mädchen“ davon „ein Glanz“ zu werden. Sie investiert in ein elegantes Kleid, trinkt im Café ihren Mokka, den Sekt an der Bar und wirft ihre erotischen Fangnetze nach Männern oder Frauen aus.
In den Jahren zwischen 1924 bis 1929, der „goldenen“ Mitte, berappelt sich Berlin und steigt zur schillernden Großstadt des Vergnügens auf. Boxkampf, Tanzdiele und Zoobesuch gehören zum beliebten Freizeitvergnügen der Kleinen Leute, aufgezeichnet von Künstlern wie Karl Arnold und Heinrich Ehmsen. Doch die Künstler sehen auch die Schattenseiten: Süchtige auf der Parkbank, desillusionierte Huren, arbeitslose Kleinbürger. Der Kampf ums Überleben schreibt sich ein in die Gesichter der Großstadt.
Wie heute zieht die Stadt viele Künstler und Schriftsteller aus allen Teilen der Welt an. Dutzende Tagezeitungen und Zeitschriften berichten über die Stars von Bühne und Filmleinwand. Der berühmteste Pressezeichner der Zeit, Dolbin, liefert schnelle, treffsichere Porträts von Bühnenkünstlerinnen wie Valeska Gert, Mary Wigmann oder Lotte Lenya.
1930 erscheint die Mappe Rues et Visages de Berlin, mit einem Text des französischen Diplomaten und Bühnenautors Jean Giraudoux und Zeichnungen von Chas-Laborde. Giraudoux beobachtet das Treiben der Berliner wie der Forscher eine fremde Kultur. Nicht etwa die Theater und die Museen faszinieren ihn, sondern der Körperkult in den Freibädern und die Volksvergnügungen im Lunapark, „die halbe Traurigkeit Berlins und seine doppelte Lustigkeit, diese Mixtur aus Elend, Sklaverei und höchster Freiheit, die das Elixier einer Metropole bildet.“ Von diesem Elixier haben alle hier gezeigten Künstler gekostet: Was sie mit Stift und Pinsel schilderten, prägt bis heute unser Bild dieser Epoche zwischen expressionistischer Großstadtdämonie und sachlichem Tempo, zwischen Bejahung der Moderne und dem Schatten der Diktatur.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933 beginnt die Zerstörung dieser kulturellen Vielfalt: Aufmarsch und Ende. Kritische Künstler gehen in die Emigration. Jüdische Künstlerinnen wie Ines Wetzel, Lilo Friedlaender oder Gertrude Sandmann erhalten Berufsverbot, gehen in den Untergrund oder werden im KZ getötet. Werner Heldts berühmte Zeichnung von 1933/34 bringt auf den Punkt, was die farbige und lebendige Kultur der Weimarer Republik abwürgt und vernichtet: Der Aufmarsch der Nullen.