Rückblick

Pınar Öğrenci

Im IBB-Videoraum

Pınar Öğrenci (*1973 Van, Türkei) arbeitet mit den Medien Film, Video und Installation. Sie beschäftigt sich mit Themen an der Schnittstelle von sozialen, politischen und historischen Fragen und nimmt eine dekoloniale und feministische Perspektive ein. Ein Schwerpunkt ihrer künstlerischen Praxis ist die Auseinandersetzung mit Migration, Vertreibung, Staatsgewalt und Strategien des Widerstands. Dabei arbeitet sie häufig mit Material aus Archiven. Sie löst Bild-, Video- und Tondokumente aus ihrem ursprünglichen Kontext und verwebt sie zu poetischen und atmosphärischen vielschichtigen Erzählungen.

Aşît/The Avalanche, 2022

In der Berlinischen Galerie zeigt sie den Film „Aşît/The Avalanche“ (2022, 60 Min.), produziert für die documenta fifteen. Inspiration und Ausgangspunkt dafür war Stefan Zweigs 1942 im brasilianischen Exil verfasste „Schachnovelle“, in der das Schachspiel zu einer Überlebensstrategie im Angesicht des Faschismus wird. Öğrenci ist für ihre Arbeit in die Heimatstadt ihres Vaters, Müküs (Bahçesaray auf türkisch), zurückgekehrt. Diese befindet sich in der Region Van an der Grenze der Türkei zum Iran. Bis 1915 waren das Bildungssystem und die Vermittlung des kulturellen Erbes der Stadt mehrsprachig: Armenisch, Kurdisch, Farsi und Arabisch existierten nebeneinander. Heute hat sie einen hohen Anteil kurdischer Bevölkerung. Der Titel des Films „Aşît“ ist Kurdisch und bedeutet „Lawine“ und „Katastrophe“. Er bezieht sich sowohl auf die Lawine, die Müküs vom Rest der Welt abzuschneiden droht, als auch auf „Meds Yeghern“ (dt. „Die große Katastrophe“) von 1915, den Völkermord an etwa 1,5 Millionen Armenier*innen während des Ersten Weltkriegs.

Öğrenci zeigt in ihrer bildgewaltigen Arbeit alltägliche Überlegensstrategien der kurdischen Bevölkerung unter staatlichem Druck. Der Film thematisiert die Spuren der verschiedenen Kulturen, die in Müküs präsent waren, bevor Teile der Bevölkerung ermordet, vertrieben oder zur Assimilation gezwungen wurden. Eine zentrale Rolle spielen dabei der armenische Musiker Hayrik Muradian, der 1918 aus der Region Van fliehen musste, und die Lieder aus seiner Heimat, die er gesammelt hat.

Trailer

Inventory, 2021

Eine weitere Arbeit von Pınar Öğrenci wird ab dem 26.5.23 online gezeigt. „Inventory, 2021“ ist eine neue Version des 1975 gedrehten Films „Inventur – Metzstraße 11“ des jugoslawischen Regisseurs Želimir Žilnik. Žilnik (*1942), der u.a. 1969 den Goldenen Bären der Berlinale gewann, arbeitet häufig regimekritisch. Er lebte in den 1970er Jahren aufgrund von Repressionen der jugoslawischen Regierung zeitweise im Exil in Westdeutschland. Dort beschäftigte er sich mit der Lebensrealität der sogenannten „Gastarbeiter*innen“. Pınar Öğrenci war aufgrund von Repressionen der türkischen Regierung 2018 gezwungen, nach Deutschland auszuwandern. Hier drehte sie ihren ersten Dokumentarfilm „Gurbet is a home now“ (2021) mit ehemaligen „Gastarbeiter*innen“ aus der Türkei und begegnete zur gleichen Zeit Žilniks „Inventur – Metzstraße 11“.

Bei Žilnik wie auch Öğrenci wird das Treppenhaus eines Mehrfamilienhauses zu einem kollektiven Raum der Begegnung für die Bewohner*innen. Während Žilniks Film in München gedreht wurde, spielt Öğrencis Arbeit in Chemnitz und erzählt von den antirassistischen Kämpfen der dort lebenden Menschen.

Im ursprünglichen Film wurden die Interviewten beim Hinabsteigen der Treppe ihres Hauses gezeigt. Sie waren meist im Zuge der „Anwerbeabkommen“ der BRD als „Gast“ nach Deutschland gekommen. Im Gegensatz dazu gehen die Protagonist*innen in Öğrencis Neuverfilmung die Treppe hinauf zu ihren Wohnungen. Es wird deutlich, dass Chemnitz keine vorübergehende, sondern eine dauerhafte Heimat für sie ist. Sie berichten von ihren Biografien, ihrer Bindung an die Region, ihrem Engagement gegen Rassismus und den alltäglichen Diskriminierungen auf struktureller wie individueller Ebene.

IBB-Videoraum

Im  IBB -Videoraum werden seit 2011  Künstler*innen präsentiert, die mit zeitbasierten Medien arbeiten. Das Programm umfasst  nicht nur etablierte Namen der zeitgenössischen Videokunst,  sondern auch junge Positionen, die bisher kaum in Museen zu sehen waren. Ihnen soll in der Berlinischen Galerie ein erster institutioneller Auftritt ermöglicht werden.
Jedes Screening erlaubt eine neue Auseinandersetzung mit  Werken, die mediale oder auch politische und soziale Fragestellungen anstoßen. Besonderes Augenmerk liegt dabei darauf, marginalisierten Perspektiven Raum zu geben und Auswirkungen von Machtstrukturen sichtbar zu machen.