Das Foto zeigt Siobhan Lidell (* 1965), mit der Nan Goldin (* 1953) eine mehrjährige Liebesbeziehung hatte. Mit dem Bildtitel „Siobhan in my mirror“ gibt die Künstlerin etwas von sich preis: denn es ist ihr Schlafzimmer, ein höchst privater Raum, in den wir blicken. Am Spiegel das Bild eines nackten, weiblich konnotierten Körpers: ein Hinweis auf das sexuelle Begehren der Künstlerin? Eine ironische Aneignung des männlich sexualisierten Blicks auf weiblich konnotierte Körper? Zudem ein Bett im Hintergrund, diverse Make-up-Produkte im Vordergrund – und mittendrin Siobhan. Damit erzählt das Bild auch von dem intimen Verhältnis der beiden Frauen.
Siobhan erscheint doppelt im Bild: Links entzieht sie sich Goldins Kamera als verschwommene Rückenfigur. Erst auf das Spiegelbild, in dem sie sich eindringlich und konzentriert ansieht, hat die Fotografin den Bildausschnitt scharf gestellt. Die Fotografierte ist zugleich Betrachtende und Betrachtete. So unterläuft Goldin gängige Blickhierarchien. Wir sehen Siobhan im Spiegel so, wie sie sich selbst sieht: Ihr kurzes, dunkles Haar, der klassische Herrenanzug – Merkmale stereotyper Männlichkeit – stehen in scharfem Kontrast zu dem weiblich konnotierten Torso, der am Spiegel klemmt: Hier ist der nackte Körper den Blicken ausgeliefert.
Nan Goldin lebte vier Jahre in Berlin, wo sie Teil der lebendigen queeren Subkulturszene von Drags, Trans* Personen und homosexuellen Menschen war. Mit den Protagonist*innen ihrer Bilder lebte sie zusammen und porträtierte sie aus einer nicht-voyeuristischen Haltung heraus, oft in einer Schnappschuss-Ästhetik. Dabei stellt sie Vorstellungen von binären geschlechtlichen und festen sexuellen Identitäten immer wieder in Frage. 2001 sagte sie in einem Interview: „Gestern Nacht, als mich jemand auf einer Party fragte, ob ich eine Lesbe sei, antwortete ich, ich sei immer eine echte Lesbe, wenn ich mit Frauen schliefe, und bisexuell, wenn ich auch mit Männern zusammen bin.“
Autor*in:
Luise Walker
Ehem. Wissenschaftliche Volontärin
Pronomen: sie/ihr
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